Der Vagabund - eine 'Meditation sauvage'

 

Der Vagabund fühlt sich nie ganz sicher, ihm gehört nicht der Schauplatz, die Gegend, in der er sich bewegt. Die Dignität der Dinge achtend schritt er mit Wissen und Scham, mit Lust und Plage durch diese Welt.

Aus einem unerfindlichen Grunde, einem Geschicke gleich, vermeinte er, jener anderen Macht, die ihn ins Dasein warf und ihm die Natur überantwortete, nicht mehr zu bedürfen. Abgewandt leugnete er den ‘Bund’ und sah sich genötigt, seine Sicherheit in sich selbst zu finden: Selbst-Bewußtsein gründet so in Selbst-Sein-Wollen. Die Sicherung des Selbst ließ ihn sich alles und jedes gegenüber-stellen, um ihm, im Falle des Bedarfs, zur Hand zu sein. Dies sind nun nicht nur Dinge, Ressourcen - auch Seinesgleichen ist ihm wechselseitig hierzu dienlich.

Zudem erscheint das, was er als 'höhere Güter', als Werte und Normen in seinen selbstgezimmerten Himmel versetzte, bei rechtem Lichte besehen, nur immer insoweit gültig wie sie ihm hilfreich waren, Haus, Hof und das eigene Selbst zu behüten. Das Sich-Behüten zeigte sich janusköpfio im Immer-auf-der-Hut-Sein. Keine Sicherung und Selbstvergewisserung konnte streng genug sein: das Sichern rotiert nur noch als sich selbst sicherndes auf der ständigen Suche nach Ungesichertem - oder anders gesagt: das Erklären/ Verstehen forscht stets nach dem Unerklärten/Fremden; es muß es nichten, um sich selbst zu erhalten und ist zugleich immer wieder angewiesen auf das, was es zu vernichten trachtet. Ohne dieses wäre es nicht das, was es ist - dh. es zerfiel.

Doch bevor es zerfällt, zehrt sich dies, wovon die Rede ist ( wir können es auch ‘abendländische Vernunft’, ‘ratio' oder Autonomie nennen) selber auf: Heute steht es da, nackt und bloß als sich selbst erhaltendes Hyper-System, trotz einiger in Agonie oszillierender Subsysteme ständig auf der Suche nach dem Anderen, das ineins nicht sein darf und dennoch sein muß. Vor Jahren, uns der wirklichen Tragweite des Geschehens nicht bewußt, nannten wir Momente dieses Prozesses Kapitallogik oder reelle Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapital; heute noch gibt es welche, die sprechen fast beschönigend von ‘Kolonialisierung der Lebenswelt’, wollen mit dem erhobenen Zeigefinger der einen Hand der anderen, die den Kreisel munter weitertreibt, ihre Zügellosigkeit vorhalten. ‘Untiere’ wieder können den Kollaps der Systeme gar nicht erwarten.

Wo sind die Vagabunden geblieben? - hier und da werden sie noch gesichtet, sie fühlen den schwankenden Boden noch oder wieder, den Ungrund, der ein solcher, weil nicht der ihrige, ihnen frei verfügbare ist.

Auch sie gehen sehend durch die Welt, doch eher achtsam als auf der Hut. Ihre Lebenswelt ist ebensogut das Reich der Systeme und dennoch vermögen sie derart wahrzunehmen, daß sich ihnen, wenn sie versammelt um Brot und Wein, zwischen Nimmel und Erde eine Welt aufspannt, deren Physiognomie ver-rückt erscheint. Der sichere Zugriff versagt und trotzdem macht diese Erfahrung nicht stumm. Weder in sich gekehrt, noch gänzlich selbstvergessen, sehend-sichtbar, berührend-berührt ergreift den Vagabunden ein Wechselspiel mit den Dingen der Welt, die sie selbst bleiben und dennoch seiner bedürfen, um sich ihm gleichsam vor-zustellen.

Was sich derart zeigte gleicht aber keiner harmonischen Idylle:

"Die Dinge sind da, nicht mehr nur wie in der Perspektive der Renaissance nach ihrem projektiven Augenschein und den Erfordernissen des Panoramas, sondern im Gegenteil aufrecht, eindringlich, mit ihren Kanten den Blick verletzend, jedes eine absolute Gegenwart beanspruchend, die mit der der anderen unvereinbar ist und die sie dennoch alle gemeinsam haben kraft eines Gestaltungssinnes, von dem der ‘theoretische Sinn’ uns keine Idee vermittelt."

 

(Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist)

Rudolf Süsske
Villigst, den 16.9.85